Wie schreibe ich eine Kurzgeschichte?

Vor ein paar Wochen habe ich bereits das Thema “Wie entsteht eine Geschichte?” behandelt (falls ihr es verpasst habt, hier ist der Link). Vieles davon ist allgemeingültig, einiges aber doch sehr romanspezifisch. Deshalb widmen wir uns heute in aller Ruhe den Besonderheiten der Kurzgeschichte.

Was macht eine Kurzgeschichte aus?

Erst einmal das technische Blabla: Was ist eine Kurzgeschichte? Im Normalfall (Ausnahmen gibt es ja immer) erfüllt eine Kurzgeschichte folgende Merkmale:

Sie ist kurz. Eine klare Definition gibt es hier nicht, ich würde alles von einem Absatz bis zu ca. 30 Buchseiten dazu zählen (danach beginnt der fließende Übergang zu Novelle bzw. Kurzroman).

Sie beschreibt ein bestimmtes Ereignis, ohne sich damit aufzuhalten, wie es dazu kommt oder was danach passiert. Die Handlung beginnt unmittelbar, der Schluss kann durchaus offen bleiben.

Sie wird prägnant und chronologisch erzählt. Auf überbordende Sprache wird verzichtet, ebenso auf Zeitsprünge, unnötige Hintergrundinformationen oder Charakterdetails. Alles, was nicht unmittelbar mit der Geschichte zusammenhängt, bleibt raus. In den allermeisten Fällen wird aus nur einer Perspektive erzählt.

Es gibt keine Heldenreise – aber immer eine Entwicklung der Hauptfigur. Diese Entwicklung hängt unmittelbar mit dem beschriebenen Ereignis zusammen: Der Held erfährt etwas und muss handeln. Für das typische Auf und Ab der Heldenreise gibt es allerdings keinen Platz. Hier marschieren wir zielstrebig auf unser Ziel zu:

Am Ende steht die Pointe. Anders als im Roman, wo die zentrale Aussage, die Grundidee den Auftakt der Geschichte bildet, von dem aus wir unsere Überlegungen starten (z. B. Nora springt in Bücher), steht bei der Kurzgeschichte der Clou am Ende. Das “und wie reagiert man darauf” wird meist dem Leser überlassen.


Der Beginn: Das Ende

Wenn ich mich also ans Kurzgeschichtenschreiben mache, suche ich nach zwei Ideen: Der Überraschung am Ende (ja, die habe ich fast immer zuerst) und dann nach einer zweiten, handlungstragenden Idee. Wie beim Geschichtenfinden allgemein finde ich Recherche ein wunderbares Mittel, um die Muse wachzukitzeln. Was verbirgt sich hinter einem Thema? Welche ungewöhnlichen Gesichtspunkte kann ich daran finden? Und wie kann ich den Leser damit überraschen? Für eine gute Überraschung muss der Leser letzten Endes erfolgreich in die Irre geführt werden. Wir lassen den Leser in dem Glauben, es würde um die zweite Idee gehen … bis wir am Schluss die Karten auf den Tisch knallen und unsere wahre Absicht offenbaren.

Das funktioniert allerdings nur, wenn auch die tragende Geschichte – unser Bluff sozusagen – den Leser fesseln kann. Die Pointe entscheidet, ob eine Geschichte gelungen ist oder nicht. Aber wenn eure Leser gar nicht erst dorthin gelangen, weil die eigentliche Geschichte sie langweilt, bringt der beste Schluss nichts.

Ich nehme jetzt mal als Beispiel “Der Nebel” von Stephen King. Die Hauptstory der Kurzgeschichte ist einfach: Ein dichter Nebel zieht auf, in dem sich gruselige Viecher tummeln. Eine Gruppe von Kleinstadtbewohnern verrammelt sich im Supermarkt. Die Geschichte erzählt, wie sie immer weiter in Panik geraten, bis schließlich die ersten Leute ihr Glück mit der Flucht versuchen. Die Grundidee ist also sehr spannend, und zwischenmenschliche Konflikte sind in meinen Augen eine ganz klare Stärke von King.
Enden dagegen sind oft nicht so seins. Das Originalende der Kurzgeschichte ist saulangweilig. Sie schaffen es zum Auto, fahren los, bekommen aber keine Funkverbindung zu irgendwem und der Nebel hört (bis zum Ende der Geschichte) auch nicht auf. Ein völlig offenes Ende. Entsprechend habe ich diese Geschichte recht bald wieder verdrängt. Bis ich die Verfilmung unter der Regie von Frank Darabont gesehen habe (die übrigens gerade auf Prime verfügbar ist, falls ihr Interesse habt). Der hat Kings lasches Ende komplett über den Haufen geworfen – und seitdem lässt mich diese Geschichte nicht mehr los.


Welche Geschichte will ich erzählen?

Wenn wir also wissen, auf welches Finale wir zusteuern, können wir uns von dort aus nach vorne hangeln und die eigentliche Geschichte anpacken (bei unserem King-Beispiel: Was passiert im Supermarkt?). Ich möchte, dass der Leser involviert ist, mit meinen Figuren mitfühlt, die Entscheidung meiner Hauptfigur (z. B. den Supermarkt zu verlassen) nachvollziehen kann und gut findet. Wichtig dabei: Die Entscheidung ist nicht die Pointe! Die Pointe ist die Konsequenz dieser Entscheidung.

In diesen Mittelteil der Geschichte kommt also alles, was uns einfällt, um unsere Hauptfigur akut unter Druck zu setzen. Hier werden keine Traumata bearbeitet, hier werden sie verursacht. Wir setzen unserem Helden die Daumenschrauben an und drehen, bis es knirscht.

Mindmapping ist eine gute Methode, um diesen Teil mit Ideen zu füllen: Was kann alles passieren? Was möchte meine Hauptfigur erreichen (das Bluff-Ende) und wer oder was hindert sie daran?
Je mehr ihr hier hineinstopft, desto länger wird die Geschichte. Falls ihr also eine bestimmte Länge erreichen wollt (oder nicht überschreiten dürft), ist hier die Stelle, an der ihr das beeinflussen könnt. Das geht natürlich nur bedingt – wenn eure Geschichte besagt, dass die Hauptfigur sich verliebt oder dem Wahnsinn verfällt, könnt ihr das auf zwei Seiten wahrscheinlich nur schwer darstellen. Aber ob ihr für diese Entwicklung zwei Beispiele nehmt oder fünf bleibt euch überlassen. (Natürlich müssen zwei prägnanter sein, während fünf drohen, repetitiv zu wirken – aber dafür habt ihr ja das Mindmapping.)


Und wo fange ich an?

Es kommt jetzt wahrscheinlich wenig überraschend, dass, wenn das Ende am Beginn steht, der Anfang der Geschichte ganz zum Schluss kommt (zumindest bei mir, es tickt ja jeder anders). Wir wissen, wohin unsere Geschichte zielt und welche Entwicklung davor passiert. Damit können wir nun den perfekten Punkt suchen, an dem wir unsere Hauptfigur und die Geschichte starten lassen.

Die einfachste Regel hier: dort, wo die Geschichte losgeht. Wenn ihr euch in Rückblenden ergehen müsst, seid ihr zu spät eingestiegen. Wenn euer erster handlungsrelevanter Konflikt auf sich warten lässt (ihr erinnert euch: keine Vorgeschichten!), müsst ihr euch einen späteren Einstieg suchen. Alles, was nichts zum Konflikt der Geschichte beiträgt, sollte raus.

Der Anfang muss krachen – er muss die Geschichte aber auch wirklich ins Rollen und nicht nur Figuren in Position bringen. Wie Antoine de Saint-Exupery sagte: „Ein Text ist nicht dann vollkommen, wenn man nichts mehr hinzufügen kann, sondern dann, wenn man nichts mehr weglassen kann.“

(Dieser Beitrag erschien zuerst und ungekürzt auf Patreon.)