Wie entsteht eine Geschichte?

Eine der beliebtesten Fragen, die Autoren immer wieder gestellt werden, lautet: “Wo nimmst du nur deine Ideen her?” Irgendwie scheint die naheliegende Antwort “Ich denke nach.” nicht sonderlich befriedigend zu sein. Also gut: Wir Autoren denken einfach sehr viel nach, und wir kennen die gängigen Schemata, die beim Geschichtenerzählen funktionieren. Manchmal folgen wir ihnen unbewusst, manchmal sitzen wir mit einer Checkliste da und gucken, was unserer Geschichte fehlt. Meistens schreiben wir Dinge einfach, weil wir daheim im stillen Kämmerchen hocken und uns denken: “Hahaha, wär das lustig, wenn jetzt xxx passiert.”

Meistens ist der eigene Geschmack ein guter Leitfaden. Wenn man selbst eine Idee spannend findet, ist die Chance gegeben, dass es auch andere Leute interessiert. Alles, was danach kommt, ist vor allem eines: Arbeit. Schreiben ist zu einem kleinen Teil Kunst und zu einem sehr großen Teil Handwerk, das man sich aneignet. Ob das nun das Zehnfingersystem ist, Rechtschreibung oder das Konzept des Geschichtenerzählens … All das kann man lernen, und sollte man auch. Man fällt nämlich genausowenig als genialer Autor vom Baum wie man Meisterbildhauer ist, ohne jemals auch nur das dafür benötigte Werkzeug in der Hand gehalten zu haben. Unser Glück: Vieles nehmen wir schon passiv auf, indem wir lesen, Filme sehen (ja, auch davon kann man viel lernen) oder ganz einfach tagträumen.

Natürlich gibt es auch den berühmten Musenkuss – wir nennen diese Ideen liebevoll “Plotbunnies”, weil sie uns unverhofft anspringen, meistens dann, wenn wir gerade überhaupt keine Zeit dafür haben. Aber ganz ehrlich, wenn wir auf die geniale Idee von außen warten, wird das nichts mit dem regelmäßigen Schreiben. Kreativität ist ein Muskel, den man trainieren kann, und je besser man sein Werkzeug kennt, umso besser kann man es gezielt handhaben.

Hier also, was ich tue, wenn ich mir eine neue Geschichte ausdenken soll:

1. Thema finden

Die wichtigste Frage ist natürlich immer: Worüber möchte ich schreiben? Woher nimmt man die Idee, die toll genug ist, Leser zu überzeugen und ein ganzes Buch füllen kann?

Die beruhigende Antwort ist: Keine einzige Idee füllt ein ganzes Buch. Die besten Ideen lassen sich in einem Satz zusammenfassen. Beispiel gefällig? “Die Kinder zweier verfeindeter Familien verlieben sich ineinander.” Würde jetzt noch die Auflösung dazukommen (“Missverständnisse und der Hass ihrer Familien treiben sie in den Tod.”) hätten wir schon den perfekten Pitch, aber so weit sind wir noch nicht. Erst einmal geht es nur um die Idee.

Meistens weiß man, in welchem Genre man sich bewegen möchte. Von da aus kann man sich weiter voran arbeiten: Was fällt mir dazu ein? Gibt es Klischees, spannende Erkenntnisse, die ich nutzen kann? Was würde ich selbst interessant finden?

Vor ein paar Jahren habe ich mal einen Blogbeitrag zum Thema Inspiration und Recherche geschrieben, der immer noch seine Gültigkeit hat.

Beispiel aus der Praxis

Für den Roman “Zweite Heimat” hatte ich vom Verlag nur die Vorgabe, dass sie gerne einen Science Fiction-Roman von mir hätten. Hier liegt das Thema Raumfahrt und aktuelle Wissenschaft natürlich sehr nahe, also habe ich mich ein wenig eingelesen. Außerdem bin ich ein Fan der Serie Firefly, wilde Raumabenteuer hätte ich also auch gerne geschrieben. Letzten Endes kamen auf diese Weise drei Ideen zusammen: Teleportation, Marsbesiedelung und ein Raumschiff auf Irrwegen. Die Recherche hat ergeben, dass meine Eindrücke zur Teleportationsforschung falsch und überholt waren, also flog dieses Thema raus.

Zurück blieben Marsbesiedelung und die verirrte Raumschiffcrew. Das sind noch keine Ideen, die man einem Verlag vorstellen kann, dazu benötigt man den erweiterten Teil – den Pitch. Wo liegt das Problem, und was ist daran einzigartig? Für “Zweite Heimat” wurde es die Idee: Die ersten Siedler brechen zum Mars auf, aber ein außerirdisches Raumschiff landet vor ihnen dort. Aus den Kolonisten werden Versuchskaninchen – wie gehen die Menschen damit um?

2. Die Prämisse bzw. das Ende

Meistens ist das Ende das Erste, was ich zu einem Buch weiß. (Manchmal schwenkt aber auch das zwischendurch um, weil sich die Charaktere komplett anders entwickeln, als ich dachte, und plötzlich ganz andere Ziele verfolgen.) Denn das Ende entscheidet darüber, wie die gesamte Geschichte aufgenommen wird. Wären Romeo und Julia am Ende glücklich zusammen alt geworden und hätten dabei auch noch den Zwist ihrer Familien aufgelöst, hätten wir zwar ein klassisches Happy End – aber ich bezweifle, dass es ein Klassiker der Literatur geworden wäre.

Also: Was möchte ich mit meiner Geschichte erreichen? Was soll sie vermitteln? Das sind ganz wesentliche Fragen, um einen guten Plot zu bekommen, der dem Leser nicht nur das Gefühl gibt, dass die Geschichte damit gut und logisch abgeschlossen wurde, sondern auch, dass die Lektüre ihn in irgendeiner Form bereichert hat.

Beispiel aus der Praxis

Bleiben wir bei “Zweite Heimat”. Die Menschen stehen einer außerirdischen Spezies gegenüber, die die Menschheit beurteilen soll. Die wesentliche Frage ist also: Wie geht dieser Test aus? Einfach mal die logischen und unlogischen Möglichkeiten abgeklappert:

– Die Menschen bestehen den Test, weil sie mega toll sind. (Langweilig.)
– Die Menschen vergeigen den Test und werden ausgerottet. (Realistisch, aber nicht ganz praktikabel, vor allem nicht, wenn wir die Möglichkeit einer Fortsetzung im Kopf behalten wollen.)
– Die Menschen vergeigen den Test, aber ein paar einzelne überleben und werden fortan gejagt. (Das wäre ein spannendes Endzeit-Szenario.)
– Die Menschen überzeugen die Außerirdischen, dass ihr Weg der Bessere ist. (Möh.)
– Zufällig taucht noch eine andere außerirdische Spezies auf und hilft den Menschen. (Zufälle sind immer doof, macht das nicht!)

Wie diese Überlegung ausgegangen ist, spoilere ich hier mal nicht, das könnt ihr ja im Buch nachlesen.  Aber ihr seht, man hat sehr viele miese Ideen, bevor man ein paar gute bekommt. Aber diese miesen Ideen braucht man auch, um zu wissen, warum etwas nicht funktioniert. Und manchmal lassen sich zwei schlechte zu einer guten Idee zusammenführen.

3. Die Figuren

Dieser Schritt kann nicht zu lang geraten. Die Charaktere sind das, was ein gutes Buch ausmacht. Sie sollten nachvollziehbar und vor allem nachfühlbar sein, individuell, eigene Interessen vertreten, eine eigene Geschichte mitbringen, die nicht nur in ihrer Funktion im Roman besteht. Ein paar Tipps für lebendige Charaktere findet ihr in meinem Blogartikel zum Thema Charaktere beschreiben.

Jetzt benötigen wir allerdings erst einmal den langweiligen Part, nämlich exakt die Funktion im Roman, die wir erfüllt haben müssen, um schöne Konflikte zu erhalten und diese auch erzählen zu können (dazu benötigen wir eine Perspektivfigur vor Ort, die dort natürlich auch aktiv sein muss und nicht nur zuguckt).

Also, ausgehend von unserer Idee und der Prämisse, die wir gefunden haben: Welche Charaktertypen krachen am meisten aneinander? Welche Handlungsorte habe ich, die ich besiedeln muss? Welche Interessenskonflikte tauchen auf? Und wen brauche ich, um das den Lesern nahebringen zu können?

Beispiel aus der Praxis

Da die Aufgabe meiner Menschen in “Zweite Heimat” darin besteht, zu beweisen, wie friedfertig die Menschheit sein kann, hat mir das schon mal ein paar Figuren vorgegeben: Einen Pazifisten und jemanden, der Kampf recht bald als einzige Möglichkeit sieht, aus der Sache rauszukommen. Eigentlich sollte noch ein Priester mit rein und den Konflikt Glaube gegen Wissenschaft beisteuern, das fand ich auf dem Schiff mit lauter Wissenschaftlern dann aber unnötig. (Ursprünglich sollte meine Crew aus “normaleren ” Leuten (Politiker, Soldaten, Ärzte und Wissenschaftler) bestehen, aber davon haben mich meine Recherchen abgebracht – es braucht erst einmal ausgebildete Astronauten, um einen Planeten so weit auf die Besiedlung vorzubereiten. Und das sind nun mal Wissenschaftler.)

Dann brauchte ich natürlich noch jemanden auf der Erde – immerhin wirken sich die Ereignisse auf dem Mars auch auf den menschlichen Heimatplaneten aus. Und natürlich muss auch die Gegenfraktion ein paar Gesichter bekommen, also entwarf ich zwei Außerirdische, von denen eine den Menschen wohlgesonnen ist und eine eben nicht.

Die Infos zu den einzelnen Figuren (ihre Motivationen, ihre Persönlichkeiten, ihre Vergangenheit etc.) sammle ich ab diesem Zeitpunkt immer nebenbei. Je weiter mein Plot und mein Manuskript voranschreitet, desto besser lerne ich sie kennen. Wichtige Punkte, die bei mir gerne unter den Tisch fallen, muss ich aber sehr bewusst überlegen (z. B. was wollte Person X eigentlich machen, bevor mein fieser Plottwist kam, was ist mit Freunden und Familie, was tun die Nebenfiguren, wenn sie nicht gerade meinem Helden beispringen?)

4. Die Handlung

Nachdem Figuren landen in einer spannenden Excel-Tabelle, in der eine einfache Drei-Akt-Struktur aufgezeichnet ist:

– Ausgangssituation
– PlotPoint 1 (in meinem Beispiel: die Außerirdischen tauchen auf)
– 2. Akt (erste Konflikte kommen, es staut sich langsam auf)
– PlotPoint 2 (die dunkelste Stunde, hier geht alles in die Binsen)
– 3. Akt (jetzt muss man retten, was zu retten ist)
– Ende

Eine leere Tabelle, die ihr gerne benutzen könnt, habe ich euch hier hochgeladen.

Darin landen dann für jede Figur ihre Wünsche, Ziele, Reaktionen auf gewisse Ereignisse und was das für die anderen bedeutet. Dadurch wird die Geschichte nicht vom Plot, sondern von den Charakteren vorangetrieben, was sich viel spannender und glaubwürdiger liest.

Hier kristallisiert sich auch sehr schön heraus, welche dieser Figuren sich als Held eignet (nämlich die Figur, die am meisten Wandlung durchmacht und am Ende meistens recht hat, auf jeden Fall entscheidend in die Handlung eingreift).

Ich persönlich benutze gerne mehrere Perspektiven, weil ich zwischenmenschliche Konflikte sehr mag. Auch hier hilft die Tabelle: Welche Perspektivfiguren brauche ich, um alle Konflikte abzudecken und sie dem Leser nahezubringen, ohne zu viel zu verraten? Da der Leser ja weiß, was diese Figuren wissen, dürfen sie natürlich nicht essenzielle Informationen vorenthalten. (Ein Kriminaldetektiv, der in Wahrheit der Mörder ist, kann also niemals eine Perspektivfigur sein!)

Beispiel aus der Praxis

Die Außerirdischen fielen für mich als Perspektivfiguren raus – einerseits, um ihre Absichten zu verschleiern, andererseits, weil es verdammt schwierig ist, durchgehend in der Perspektive eines Volkes zu schreiben, das komplett anders tickt, als ein Mensch nachvollziehen kann. Davon rate ich dringlich ab! Einzelne Kapitel gehen vielleicht, aber immer, wenn ihr jemanden in der Gruppe habt, der auf die eine oder andere Weise seltsam ist – bleibt raus aus seinem Kopf!

Jedenfalls ergaben sich dadurch bei “Zweite Heimat” drei Perspektiven: der Pazifist, der Ex-Soldat und eine Person auf der Erde, die uns die Geschehnisse dort näherbringt.

5. Die Geschichte

Der letzte Schritt, bevor ich mich ans Manuskript setze, ist für mich eine grobe (oder manchmal auch sehr detaillierte) Handlungsübersicht. Wenn ihr die Excel-Tabelle brav ausgefüllt habt, sollte dieser Punkt leicht sein: Durchschnittlich bekommt jedes Kästchen eine Szene. Manche lassen sich zusammenfügen, andere brauchen mehr Platz. Auf jeden Fall könnt ihr euch so zeilenweise durch die Handlung tasten, bis ihr eine grobe Übersicht zusammengeschrieben habt.

Für meinen Szenenplan überlege ich während dieses Schritts schon den Aufbau meines Manuskripts: Welche Perspektive setze ich wann ein, welche spannenden Dialoge müssen rein, welche persönlichen Probleme werfe ich ein? Wie sind die Übergänge der Szenen, wie lang sollte jeder Teil ca. werden? Hier hilft natürlich die Erfahrung, aber auch für die ersten Romanversuche könnt ihr das schon machen – und euch überraschen lassen, wie sehr eure Pläne dann vom Endergebnis abweichen.

Letzte Tipps

Wenn mein Handlungsplan soweit steht, überprüfe ich ihn gerne (besonders, wenn mir mein Gefühl noch irgendwo sagt “das rockt noch nicht so richtig”) anhand von zwei Schablonen:

1) die Heldenreise von Campbell/Vogler (wer es genau wissen will, dem empfehle ich “The Writer’s Journey” von Vogler)
2) nach dem Buch “Save the Cat” von Blake Snyder

Wann immer ich das Gefühl habe, der Geschichte fehlt irgendwas, lässt sich das Manko mit diesen beiden Konzepten ziemlich schnell aufstöbern, damit eine möglichst runde Geschichte rauskommt. Genrespezifisch kann ich auch “Romancing the Beat” von Gwen Hayes empfehlen für Liebesromane bzw. für Geschichten, in denen die Liebesgeschichte sehr präsent ist (leider nur auf Englisch).

Und jetzt: Viel Spaß beim Plotten!