Vom Segen des Leidens

Keine Sorge, das wird keine Anleitung für Sado-Maso-Spielchen. Das kommt dann mal in den Spätleseblog für Erwachsene.
Wir bleiben beim Thema des Schreibens, in dem es immer wieder auf eine schnell genannte Richtlinie hinausläuft:

Was du nicht willst, das man dir tu, das füge deinen Charakteren zu!

Ohne Widrigkeiten, die sich den Protagonisten in den Weg stellen, ist eine Geschichte nicht erzählenswert. “Ich ging einkaufen, bekam alles was ich wollte, gespart habe ich nichts dabei, aber auch nicht zu viel ausgegeben, ich kam ohne Zwischenfälle nach Hause …” – nicht sehr reizvoll. Also her mit den Problemen! Und welchen geeigneteren Fundus gibt es dafür als das eigene Leben?

Als junger Schreiberling hat man oft Angst, zu viel von sich selbst in einem Text zu preiszugeben. Und die Gefahr ist natürlich immer gegeben, Schreiben ist schließlich eine intime Angelegenheit. Ein Plot oder eine Szene, die einen selbst kalt lässt, wird auch den Leser nicht richtig erreichen – er braucht den Eifer des Autors, um sich davon anstecken zu lassen. Das heißt nicht, dass ihr euch völlig entblößen müsst! Aber ihr solltet euch dessen bewusst sein, was euch selbst bewegen kann.

Reizt eure Ängste aus, schaut in den Abgrund in euch selbst, kramt heraus was ihr dort findet und macht etwas daraus! Sich den eigenen Schwächen zu stellen, sich in die Situationen hineinzuversetzen, die man fürchtet und deshalb tunlichst vermeiden will – das ist der schwierigste Teil daran. Aber es ist erst der Anfang. Denn ihr sollt natürlich nicht eure eigene Lebensgeschichte einfach euren Charakteren überstülpen – die sollen eigenständige Personen bleiben. Ein bisschen kreative Bearbeitung steckt schon dahinter.

Ein kleines Beispiel:
Ich persönlich bin kein Freund großer Höhen. Ich mag den Weitblick, allerdings kommt irgendwann einfach immer der Gedanke, dass ich den Halt verlieren könnte und den Weg nach unten antrete, und damit ist der Spaß für mich vorbei. Jeden Charakter einfach mit Höhenangst auszustatten, wäre sehr schnell sehr langweilig. Aber es bietet viele Möglichkeiten für kleine oder große Rollen in einer Geschichte: Wie geht jemand mit einer Angst um, stellt er sich oder vermeidet er es? Wie fühlt es sich an, zu fallen? Oder die Angst zu besiegen? Wie fühlt es sich an, mit seiner Angst konfrontiert zu werden? Wie die Angst an sich? Wer wäre der Charakter ohne diese Furcht? Wie bestimmt sie ihn?
Oder man wird abstrakter: Wie fühlt sich fliegen an? Schwerelosigkeit? Was, wenn man statt zu fallen Mühe hätte, am Boden zu bleiben und nicht einfach davonzutreiben?

Das Ganze könnt ihr natürlich dann auf jedes beliebige Thema anwenden – etwa indem ihr eurem Charakter Klaustrophobie oder Angst vor Wasser andichtet und nur auf euer eigenes Furchtempfinden zurückgreift, um der Szene den nötigen Baustoff zu geben. So könnt ihr euren eigenen Ballast wunderbar für eure Geschichten verwenden. Gleiches gilt natürlich auch für alle anderen Gefühle: Zorn, Mitleid, Freude, Loyalität, … Es liegt ganz bei euch! Wichtig ist nur die Intensität, mit der ihr euch darauf einlasst.

Dieser Trick hilft übrigens auch oft, wenn ihr beim Schreiben einmal feststeckt: Schaut euch an, was euch selbst an eurer Handlung oder an dem Handeln eurer Protagonisten stört. Wenn sie euch nicht mitreissen können, werden sich die Leser erst recht nicht von ihnen fesseln lassen. Tun sie zu wenig? Reden sie immer das gleiche belanglose Zeug? Gerät einer von ihnen in den Hintergrund und wehrt sich nicht einmal dagegen? Wenn ihr doch eigentlich wisst, wo es lang gehen sollte, der Weg aber trotzdem irgendwie versperrt ist, kann ein Grund für die Blockade darin liegen, dass ihr euer Werk erst einmal für euch selbst wieder spannend machen müsst.

Also dann: auf in inspirierte Sonnenschreibtage!