Unerwartete Begegnungen

Manchmal müssen Autoren auch in die weite Welt hinaus, um etwas davon zu sehen, Erfahrungen zu sammeln – und um schlichtweg einfach mal Urlaub zu machen. So geschehen kürzlich bei mir: Frohen Mutes und mit Regenschirm ausgestattet bin ich gen Norden gezogen, genauer gesagt nach London. Und dort wurde ich prompt von Schreibrecherche aus meiner Vergangenheit eingeholt.

Ich recherchiere gern und viel. Besonders Geschichtliches interessiert mich ja sowieso – wer es nicht weiß, ich durfte sogar einmal ein Praktikum bei den Wiener Stadtarchäologen absolvieren. Vom Ausbuddeln und Dokumentieren bis hin zum Zusammensetzen von Fundstücken … Eine sehr spannende Arbeit. In meinem Eifer habe ich wohl sogar ein wenig zuviel dokumentiert. Mäuseknochen, undefinierbare Metalldinger, Steinchen, die vielleicht ja doch mehr sein könnten – alles wurde fein säuberlich eingetütet (und wahrscheinlich von demjenigen, der auf jedes Ding davon eine Nummer schreiben sollte, samt und sonders weggeworfen).

Jedenfalls reizen mich historische Themen ungemein, und so kam es, dass ich mich beim Besuch des British Museum unvermutet einem alten Bekannten gegenübersah. Einem Mann, der mir sehr bei der Ideenfindung zu meiner Geschichte “Ruhelos” geholfen hat: der Lindow-Mann. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung, das er dort ausgestellt wird. Mitten zwischen Tonkrügen, stilisierten Karten und Alltagsdarstellungen findet man ihn, eingesperrt in eine gläserne Vitrine. Der arme Kerl.

Es war ein sehr eigenartiges Gefühl für mich. Das ist ein Mensch, der seit fast zweitausend Jahren tot ist. Kein Skelett, auch wenn er kaum mehr als Körper erkennbar ist. Flach, fremd … trotzdem. Keine Replik, wie ich erst dachte. Ein Mensch. Liegt da, jeder kann ihn anstarren. Ich kannte ihn von Fotos und Berichten, aber ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen, war sehr bizarr. Und ich habe mich sehr pietätlos dabei gefühlt. Und obwohl ich das halbe Museum abgeknipst habe (man weiß ja nie, wozu man die Eindrücke wieder brauchen kann), wollte ich ausgerechnet ihn, der mir wichtiger und bekannter war als irgendwas sonst dort, nicht fotografieren. Andere kannten diese Scham natürlich nicht und haben fleißig drauflosgeblitzt. Jawohl, geblitzt. Im Museum. Also habe ich mich schließlich doch überwunden, die Kamera gezückt und zwei Fotos geschossen. Ganz schnell, damit er es nicht merkt, der Lindow-Mann.

 

Irgendwie tut er mir immer noch leid. Besonders, wenn ich daran denke, was in meiner Geschichte aus der Moorleiche wurde. Seine letzte Ruhestätte hat er sich sicher anders vorgestellt …

Apropos Geschichte. “Ruhelos” sollte ursprünglich 2008 oder 2009 veröffentlicht werden. Daraus ist leider nichts geworden, aber nicht verzagen: Im Moment arbeite ich fleißig an einer eigenen Anthologie, in der viele Schubladenschätze Platz finden werden, so auch diese hier. Und natürlich auch “Magie der Nacht”, die Vorgeschichte zu Herz des Winters! Näheres dazu gibt es bald. Stay tuned!

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