Dem Bauchgefühl auf den Grund gehen

Wer viel liest, kann nicht automatisch gut schreiben (leider). Aber es hilft den meisten, sich ein gewisses “Bauchgefühl” anzueignen. Was spannend ist, wie eine Geschichte sich entwickeln muss, was komisch klingt. Offensichtlich auch bei der Charaktererschaffung, wie ich im Schreibcamp lernen durfte.

Ein lieber Kollege hat die sehr weisen Worte gesprochen: “Manchmal stockt man beim (Korrektur-)Lesen an gewissen Stellen, ohne dass man genau weiß, warum. Dann sollte man nicht einfach achselzuckend weiterlesen, sondern dem Gefühl auf den Grund gehen, es ist meistens etwas dran.” In diesem Fall war es auf Rechtschreibung und Ausdrucksweisen bezogen, aber als Leitsatz lässt sich das auf so ziemlich jedes Gebiet anwenden.

Meine Tage der Erkenntnis diesbezüglich begannen schon vor der Anreise ins Camp. Da man vorab ein Projekt einschicken sollte, an dem man arbeiten wollte, war meine Wahl der zweite Teil zu Darwin’s Failure. Gesagt, getan. Das Exposé war bereits eine Herausforderung, da ich mich an so etwas davor noch nie versucht habe, aber dann kam es zur Auswahl der Textprobe. Wer Teil 1 noch nicht gelesen hat und sich keiner Spoilergefahr aussetzen möchte, sollte diesen Blogeintrag vorerst lieber überspringen.

Darwin ist aus den Perspektiven mehrerer Personen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen geschildert, entsprechend sollte die Textprobe natürlich auch verschiedene Charaktere vorstellen, um zu zeigen, wie diese Sprünge den roten Faden weitertragen. Die ersten beiden Szenen waren schnell ausgewählt: eine Szene zwischen Haron und Ariat, die mir schon lange “fertig” im Kopf herumgespukt ist, und als Pendant dazu Harons Frau Sianna, die sich von einer Hintergrundfigur zu einer der Hauptfiguren mausern soll. Alles bekannte Gesichter, einmal Purist, einmal Arbeiter – noch Platz für eine Szene. Aber welche?

Fraktionen hätten wir genug, und die sind in Band 2 auch noch weiter zersplittert. Naheliegend wären natürlich vor allem zwei Gruppen: die Oberschicht mit ihren Wissenschaftlern, Politikern und Geldgebern, oder die Priester in ihrem Kloster, den Gebetshallen und mit ihrem heimlichen Netzwerk. Mein Problem dabei war nur, dass ich bei beiden Fraktionen die Konflikte als sehr hintergründig und langsam in der Entwicklung empfinde. Sie sind zwar wichtig, aber für eine kurze Textprobe nicht unbedingt ideal.

Da man nicht alle Entscheidungen alleine treffen muss und soll, wurde kurzerhand ein Testleser gefragt, welcher Charakter denn noch in die Textprobe soll, um das Bild abzurunden. Daraus hat sich folgende – für mich absolut überraschende – Erkenntnis ergeben: Die Leser mögen völlig andere Charaktere als ich selbst.

Ich persönlich mag die Arbeiter und Puristen, ihre Sorgen sind mir selbst am nächsten, und wenn sie dabei sind, ist immer was los. Der Umfrage nach, die ich gestartet habe, bevorzugen meine Leser dagegen Atlan, den Priester, der für mich in die Kategorie “notwendig, aber langweilig” fällt.
Stundenlang habe ich seine Szenen umgeschrieben und teilweise ersatzlos gestrichen, damit er ein bisschen Pep bekommt, aber er ist und bleibt für mich ein Gutmensch, der sich sehr zurücknimmt. Er weiß nicht, wem er es recht machen soll, seinen priesterlichen Ziehvätern oder der Mutter, die er kaum kennt … Gut, der Junge ist 18 Jahre alt und fängt erst allmählich an, für sich selbst zu denken … Aber ehrlich, DER?

Entsprechend war die Reaktion im Schreibcamp, als ich angefangen habe, meinen Plot und die Fraktionen aufzuzählen. “Zu viele Fraktionen, streich welche!” Klar, die Priester! Aber meine Leser … “Egal, weg damit!”
Bloß, je mehr ich erzählt habe und je öfter Sätze wie “Charakter X ist nicht ganz zurechnungsfähig” und “Charakter Y hat arge psychische Probleme” gefallen sind, umso klarer wurde, warum Atlan so wichtig für die Leser ist: In einer Welt der Psychopathen, Wahnsinnigen und Attentate ist er einer der wenigen “Normalen”. Ein Ruhepol, bei dem man kurz verschnaufen kann, ehe das Chaos wieder losbricht. 

Wahnsinn. So hab ich es noch nie betrachtet. Da hab ich dem armen Kerl wohl unrecht getan. Ich mach es wieder gut, ehrlich! Und die Priesterschaft wird natürlich nicht hinausgestrichen. Für das Überleben einzelner gebe ich allerdings keine Garantien ab.

Gerade heute habe ich übrigens in meiner neuen Errungenschaft “So lektorieren Sie Ihre Texte” gelesen, dass man tunlichst vermeiden soll, mehr als vier oder fünf Perspektiven zu verwenden, gerade bei Erstlingswerken (und das war Das Unglück Mensch für mich, auch wenn Herz des Winters zuerst erschienen ist). Na dann werden eben wieder ein paar dran glauben müssen, damit wir das reduzieren!

Letzten Endes hat den Weg in die Textprobe übrigens ein neuer Charakter geschafft. Und zwar mit solchem Erfolg, dass besagte Szene auch sofort zum Prolog nominiert wurde. So kann es kommen.